► Erzählsituation / Erzählperspektive
Nach
Stanzel
(1964) lassen sich drei typische Erzählsituationen (engl. points of
view / narrative perspectives, fr. situations narratives) unterscheiden:
- Ich-Erzählsituation (engl. first
person narration, fr. narration à la première personne): Der fiktive
Erzähler (engl. narrator, fr. narrateur) ist selbst Teil der dargestellten Welt
(vgl. homodiegetischer Erzähler), er erlebt das
Geschehen mit oder er erfährt es unmittelbar von den beteiligten Personen.
Dadurch ist der Standpunkt des Ich-Erzählers (engl. first person narrator,
fr. narrateur-témoin / narrateur-personnage) festgelegt, seine Perspektive ist
im Gegensatz zum Er-Erzähler (engl. third person narrator) auf Erlebnisse, Beobachtungen und Gedanken
einer einzelnen Person, nämlich seiner eigenen, beschränkt.
- Auktoriale Erzählsituation (lat.
auctor 'Urheber, Berichterstatter'; engl. authorial narrative situation
/ omniscient point of view): Der Erzähler hat seinen Platz
außerhalb der dargestellten Welt, er weiß schon im Voraus, wie das
Geschehen verlaufen wird und warum die Geschichten so und nicht anders handeln
(allwissender Erzähler, engl. omniscient narrator, fr.
narrateur omniscient). Er kann sich in das Geschehen einschalten,
indem er
auf Zukünftiges vorausweist, Vergangenes oder Gegenwärtiges
kommentiert, sich von der Handlungsweise der Figuren distanziert oder eigene
Gedanken zum Geschehen beisteuert.
- Personale Erzählsituation (engl.
figural narrative situation, fr. personaler Erzähler narrateur effacé): Der
Erzähler als Vermittler zwischen Autor und Leser fehlt, so "öffnet
sich dem Leser die Illusion, er befände sich auf dem Schauplatz des
Geschehens, oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen einer
Romanfigur [= Reflektor-Figur]" (Stanzel 1993: 17). Dadurch wird der Eindruck der
Unmittelbarkeit (engl. immediacy, fr. ) erweckt; so werden z. B. Gespräche fast ausschließlich in
direkter Rede wiedergegeben, so wie sie eine am Geschehen teilnehmende Person
aufnehmen würde. Damit tritt die szenische Darstellung an Stelle der
berichtenden in den Vordergrund. Bewusstseinsprozesse der beteiligten Personen
werden hier in Form von
erlebter Rede oder
innerem Monolog direkt, d. h. ohne
das Medium des Erzählers, dem Leser vermittelt. Die personale Erzählsituation
tritt selten in reiner Form auf, meist ist sie gekoppelt mit der
auktorialen
Erzählsituation.
Stanzels Typenkreis
lässt Differenzierungen bzw. Mischformen dieser typischen Erzählsituationen
zu.
Typen von Erzählern nach
Booth (1974):
- Ein verlässlicher bzw. glaubwürdiger
Erzähler (engl. reliable narrator) ist in seiner erzählten Welt, in der
Wiedergabe der Ereignisse oder der Interpretation des Geschehens verlässlich. Ein
unzuverlässiger
bzw. unglaubwürdiger Erzähler (engl. unreliable
narrator) widersetzt sich dem Wertesystem des Lesers; seine Erzählung weist
offenkundige Widersprüchlichkeiten auf, ist lückenhaft oder verwirrt den Leser
durch die Schilderung verschiedener Versionen der Ereignisse:
Wirklichkeitsbruch.
-
Greift der Erzähler in die Handlung ein, wird er als
intrusive bezeichnet, ansonsten als unintrusive.
-
Tritt der Erzähler so auf, dass man sich ihn
vorstellen kann (z. B. als Ich-Erzähler), ist er dramatized. Er
kann als Beobachter (observer) auftreten oder an der Handlung
maßgeblich beteiligt sein (narrator-agent). Tritt der Erzähler nie
wirklich in Erscheinung, ist er undramatized.
-
Der self-conscious narrator ist sich
seines Erzähler-Seins bewusst (spricht davon, dass er weiß, dass er der Erzähler
ist).
Chatman (1978) unterscheidet zudem:
- Als overt narrator (offenliegender,
expliziter Erzähler) bezeichnet man einen Erzähler, der als solcher in
Erscheinung tritt. Dazu zählt ein auktorialer Erzähler, der abschweift, die
Geschicke seiner Figuren lenkt und kommentiert, aber auch ein Ich-Erzähler, der
ständig als handelnde Figur auftritt.
- Im Gegensatz dazu verschwindet der
covert narrator (verborgener oder
neutraler Erzähler) gewissermaßen von der Bildfläche; die
Handlung wird erzählt, ohne dass der Erzähler in Erscheinung tritt.
Blickwinkel und Vermittlung nach
Genette:
-
Fokalisierung
(Fokus; engl. focalisation, fr. focalisation, "wer sieht / nimmt
wahr?")
-
Nullfokalisierung
(engl. zero focalisation, fr. focalisation zéro): Der Erzähler sagt
/ weiß mehr, als die Hauptfigur weiß. ("auktorial"; Wahrnehmung nicht an
eine Figur gebunden)
-
Interne Fokalisierung
(engl. internal focalisation, fr. focalisation interne): Der Erzähler
sagt / weiß so viel, wie die Figur weiß. (Informationen über das
"Innenleben" der Figur)
-
Externe Fokalisierung
(engl. external focalisation, fr. focalisation externe): Der
Erzähler sagt / weiß weniger, als die Figur weiß. (Wahrnehmung "von außen",
Kamera-Auge)
- Vocalisation (voice; engl. narration,
fr. vocalisation; "wer spricht?") / Erzählinstanz:
-
Homodiegetisch
(engl. homodiegetic, fr. homodiégétique): Der Erzähler ist Teil
seiner eigenen Geschichte (der erzählten Welt / Diegese); Erzähler = Figur
-
Heterodiegetisch
(engl. heterodiegetic, fr. hétérodiégétique):
Der Erzähler ist außerhalb der erzählten Welt; Erzähler außerhalb der
Figurenwelt
- Autodiegetisch (engl. autodiegetic):
Der (homodiegetische) Erzähler ist zugleich die Hauptfigur, der Erzähler
erzählt gewissermaßen seine eigene (Lebens-)Geschichte.
- Extradiegetisch
(engl. extradiagetic, fr. extradiégétique): Erzähler, der die
äußerste Handlung (Rahmenhandlung) erzählt.
- Intradiegetisch
(engl. intradiagetic, fr. intradiégétique): Kommt der Erzähler
in der Binnenhandlung vor, so handelt es sich um
einen intradiegetischen Erzähler.
Die einzelnen Theorien sollten nicht vermischt werden.
Links:
Erzählsituationen (Jochen Vogt)
Erzähltextanalyse (LiGo)
Literatur:
Booth, Wayne C. (1974): Die Rhetorik der
Erzählkunst, Heidelberg: UTB.
Chatman, Seymour [1978] (1993): Story and
Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, NY: Cornell UP.
Genette, Gérard (21998):
Die Erzählung, Stuttgart: UTB.
Klarer, Mario (1999):
Einführung in die neuere Literaturwissenschaft, Darmstadt:
Primus-Verlag.
Martinez, Matias / Scheffel, Michael [1999] (42003):
Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck.
Nünning, Ansgar (32004),
Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe,
Stuttgart: Metzler.
Rimmon-Kenan, Shlomith [1983] (2003):
Narrative Fiction. Contemporary Poetics, London/New York: Routledge.
Schweikle, Günther / Schweikle, Irmgard (Hrsg.) [1984] (21990):
Metzler Literaturlexikon, Stuttgart: Metzler.
Stanzel, Franz K. [1964] (121993):
Typische Formen des Romans, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht.
Stanzel, Franz K. (72002):
Theorie des Erzählens, Stuttgart: UTB.